Halbleer
„Sei zufrieden mit dem, was du hast“, flüsterte eine leise Stimme in meinem Kopf. Als hätte sie mich aufgeweckt, richtete ich mich im Schneckentempo auf. Schläfrig blinzelte ich einige Male. Es war bitterkalt hier, doch ich fühlte mich nicht unwohl. Die weißen, musterlosen Fliesen bargen Erinnerungen in sich, wie es nichts Anderes tat. Sie widerspiegelten meine Verzweiflung, meine Unsicherheit. Ein schwindelerregendes Übelkeitsgefühl breitete sich in mir aus. Nicht schon wieder, nein, es durfte nicht noch einmal passieren. Ich musste es verdrängen. Die Stimme kehrte zurück. Zufriedenheit. Zufriedenheit…in meinem Kopf fuhren die wünschenswertesten Gedanken Karussell. Doch gab es eine Möglichkeit, Menschen ewig zufriedenzustellen? Ewig, das ist auch so ein Wort, das sich viele Menschen nicht erklären können. Zufriedenheit auf Ewigkeit ist ein schweres Ziel, ja, sogar fast unerreichbar. Letzteres war meiner Meinung nach das Wahrscheinlichste.
Wie konnte man vollkommene Zufriedenheit erlangen? Diese gravierende Frage schwebte mir seit Monaten im Gedächtnis herum und ließ sich nicht so einfach mit zwei Worten beantworten. Himmel, ich suchte seit Langem die perfekte Antwort. Zufriedenheit, Ewigkeit und Perfektion. Diese drei Dinge schienen die Menschheit zu beschäftigen. Es war so schwer, eine Lösung dafür zu finden, wie man die von Perfektion gestreifte, einen zufriedenstellende Antwort für die Ewigkeit entdeckte.
Zitternd suchten meine Hände nach der Wasserflasche, und klammerten sich um sie. Wasser, das Nötigste zum Überleben. Manche Menschen tranken Haufenweise Wasser, doch sie schafften es trotzdem nicht, den nächsten Atemzug zu tun. Ob es wohl an den Studien lag, weshalb unsereins dachte, Wasser sei das Wichtigste? Entschuldigung, es war definitiv nicht jeder davon überzeugt.
Meine Flasche war noch halbleer. Ein halber Liter konnte mich mühelos einige Stunden aufrechterhalten. Allein, wenn ich das klare, durchdringliche Wasser nur beobachtete, wie es immer eine gerade Oberfläche hatte, wie es dem Druck auswich, wenn man die Flasche an einem Punkt eindrückte, konnte ich mich erschreckend gut mit dem Lebensretter vieler Leute identifizieren. Ich wich auch dem aus, was mich belastete. Ich versuchte auch, mich auf einer psychisch geraden, aber doch positiven Ebene zu befinden. Wir Menschen versuchen immer, alles zu kontrollieren, alles im Griff zu behalten und uns so gut wie niemandem zu öffnen, denn das bedeutete wiederum Verletzlichkeit.
Doch was passierte, wenn man den Deckel der Flasche abschraubte? Den Deckel, der alles stoppte, der den Ausbruch verhinderte? Der vor beängstigender Leere schützt? Ich fürchtete, es gab keine andere Möglichkeit, als den Deckel früher oder später abzunehmen.
Wenige Sekunden später ergab ich mich meinem Schicksal und musste die letzten Augenblicke meines Lebens mit ansehen, dass mein Mageninhalt wie schon so oft in der oval förmigen Toilette landete.
Halbleer (Melissa)
This entry was posted in Uncategorized. Bookmark the permalink.