Holly (Titel?) (Jenny)

Holly war meine beste Freundin. Sie war mein Vorbild. Sie hat alles erreicht, von den ich träumte und dadurch, dass ich mit ihr zusammen war, schien ein bisschen von ihrem Glanz auch auf mich hinüber. Das Beste war, dass sie mich so mochte wie ich war. Sie wollte mich nicht ändern. Obwohl ich eine graue Maus war, nahm sie mich in Schutz und es machte ihr nichts aus, wenn die Männer, die sie begierig begafften, über sie lachten, als sie mich hinter ihr entdeckten.

Holly hatte alles: einen Mann, der sie liebte, eine traumhafte Figur, einen Job, für den jede andere Frau sterben würde, ein luxuriöses Loft über den Dächern der Stadt. Es war kein Problem für sie, viel Verantwortung zu übernehmen und viel zu viele Dinge auf einmal zu erledigen. Sie erledigte alles mit einer Perfektion, die man nur ihr zugetraut hätte. So hatte es zumindest den Anschein. Selbst ich war damals davon so geblendet, dass ich nicht merkte, wie sie innerlich zerbrach.

Heute mache ich mir keine Vorwürfe mehr. Ich habe mich damit abgefunden, dass nicht einmal ich, ihre beste Freundin, etwas hätte ahnen können. Sie war nun mal die Superfrau.

Es war wieder einer dieser Tage, an denen Holly und ich gemeinsam frühstücken gingen. Sie erzählte mir von ihrem neuen Auftrag, welche großartigen Ideen sie schon hat,mit welchen erfolgreichen Kunden sie dieses Mal  zusammenarbeitete und schaute dabei auf ihre silberne Uhr. Geduldig nippte ich an meinem Kaffee. „Schau mal “, sagte Holly, „ der da drüben schaut dich die ganze Zeit so verträumt an“, und deutete auf einen jungen Mann im Anzug. „Ach nein, der schaut doch auf dich“, antwortete ich. Holly strich sich elegant durch ihr glänzendes Haar. Na wunderbar, sie merkt es nicht einmal. Sie flirtet mit ihm und hat keine Ahnung, was sie damit bei diesem Mann auslöst. Verstohlen schaute ich zu ihm rüber. Man konnte förmlich sehen, wie ihm die Zunge aus dem Mund hing .Angewidert blickte ich weg. Bilde ich mir das nur ein, oder ist Holly heute etwas hibbelig? Ja, doch ihr kleiner Finger zuckt ununterbrochen. Als ich sie genauer betrachte, fallen mir noch andere Dinge auf: Ihr Lidstrich ist nicht so präzise gezogen wie sonst, ein Knopfloch ihrer Bluse hatte sie übersprungen und ihre seidige Strumpfhose hatte eine Laufmasche. Sie hatte sogar vergessen, sich passende Schuhe anzuziehen. Komisch, dachte ich. Aber spätestens hier hätte mir auffallen sollen, dass heute etwas anders ist. Ihr Lächeln war auch nicht so natürlich wie sonst. Es sah so aus, als würden unsichtbare Fäden, wie die einer Marionette, an ihren Mundwinkeln ziehen. „ Holly, geht es dir heute irgendwie nicht gut? Du machst den Anschein, als wärst  du etwas durcheinander“, fragte ich. „ Nein, alles wie immer“, antworteten ihre Marionettenlippen, „ wie kommst du nur darauf?“, und kramte in ihrer Handtasche. „Mist, ich hab den Vertrag zu Hause auf den Tisch liegen lassen“, fluchte Holly.

Holly vergisst nie etwas.

„ Es tut mir leid Andrea, ich muss noch mal nach Hause. Es ist verdammt wichtig.“

Holly flucht nie.

„ Kein Problem“, antworte ich, während Holly das Geld auf den Tisch legt und versucht, ich aus der Tischbank zu quetschen.

Holly ist nie in Eile.

Hektisch stolziert sie dem Ausgang entgegen, als sie mit ihrem 10-Zentimeter-Absatz in einem Loch hängen blieb und fast stolpert.

Holly stolpert nie.

Zum Abschied hebt sie noch die Hand. Ich winke durch das Glasfenster zurück. Und dann sehe ich es: Als sie glaubt ich sehe sie nicht mehr, verändert sich ihr Gesicht schlagartig. Ihre Fassade bröckelt. Etwas, von dem ich nie glaubte, dass Holly es nötig hat, fiel in diesen kurzen Sekunden von ihr ab. Etwas, das Holly war.

Mein Blick fiel auf den Sitz, auf dem sie gerade gesessen hatte. Ihre makellose Aura schwebte noch im Raum. Da lag etwas. Ich nahm es in die Hand und las. Es war der Vertrag, den sie in ihrer Eile vergessen geglaubt hatte. Kurzerhand stand ich auf und machte mich auf den Weg zu ihr. Ich sollte sie anrufen, dachte ich, wählte ihre Nummer und ließ es klingen. Doch sie nahm nicht ab.

Holly nimmt immer ab.

Nun kam in mir endlich das Gefühl hoch, das schon die ganze Zeit in mir aufkeimt. Holly ist nicht Holly und irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Mich packte die Angst. Was ist passiert? Was ist mit ihr passiert?

Ich stieg aus dem Taxi, rannte die verdammte Treppe hinauf. Warum muss sie nur so weit oben wohnen? Tränen rannen aus meinen Augen, wie automatisch. Als wüsste mein Herz etwas, das mein Verstand nicht zu begreifen vermag.

Ich hämmerte mit aller Kraft gegen die Tür. „ Holly! Holly“, schrie ich, doch niemand schien zu hause zu sein. Ich lauschte an der Tür. Doch, da war jemand drin. Ich hörte, wie etwas zu Bruch ging. „Verdammt, Holly, mach die Tür auf, ich weiß, du bist da drinnen.“                                                    „Verschwinde“, dröhnt es mir entgegen.

Stille.

Ein Knall. Ein Schuss.

Heute gehe ich sie wieder besuchen. Ich habe Blumen besorgt, um sie auf ihr Grab zu legen. Es ist ein schöner Tag. Er hätte ihr gefallen. Sie mochte es, wenn das Licht den Glanz ihrer Haare widerspiegelte.

Wie gesagt, ich fühle mich nicht mehr schuldig. Man hatte Tagebücher von ihr gefunden. Es war ihr einfach zu viel geworden. Die Rolle, von der wir dachten es wäre sie, war ihr zu mühselig und anstrengend geworden. Sie hatte einfach keine Kraft mehr die Superfrau zu sein, für die sie alle hielten. Sie hatte aufgegeben.

Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, habe ich nur einen einzigen Satz im Kopf: „Schau mal der da drüben schaut dich die ganze Zeit so verträumt an.“

Es war ein Satz, der der Holly entsprach, die ich kannte. Und so will ich sie in Erinnerung behalten.

Jennifer Gress                                                                                13.4.11

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1 Response to Holly (Titel?) (Jenny)

  1. Marie says:

    Hi Jenny,
    wenn ich an deinen Text denke, nimmt er mich immer noch mit.
    Es wird toll morgen!
    LG Marie

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